Union des Familles en Europe

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 14. April 2010 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Staatsrat (Beschluss Nr. 323830 vom 14. April 2010) bezüglich einer vom Verband Union des familles en Europe erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel L. 211-3 Absatz 3 des Gesetzbuches über Sozial- und Familienbeihilfen mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf das Gesetzbuch über Sozial- und Familienbeihilfen;

 

Unter Bezugnahme auf das geänderte Gesetz vom 1. Juli 1901 über Vereinsgründungsverträge;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Präsidenten der Nationalversammlung, eingetragen am 22. April 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die für den Verband Union des familles en Europe von der Rechtsanwaltskanzlei Delaporte, Briard, Trichet, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 4. Mai 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die für den Dachverband Union nationale des associations familiales von der Rechtsanwaltskanzlei Boutet, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 4. Mai 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 4. Mai 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die weitere Stellungnahme des Dachverbandes Union nationale des associations familiales, eingetragen am 12. Mai 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die weitere Stellungnahme des Verbandes Union des familles en Europe, eingetragen am 12. Mai 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr RA François-Henri Briard für den Verband Union des familles en Europe, Herr RA Jean-François Boutet für den Dachverband Union nationale des associations familiales und Herr Thierry-Xavier Girardot, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 25. Mai 2010 gehört worden sind;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass gemäß Absatz 3 von Artikel L. 211-3 des Gesetzbuches über Sozial- und Familienbeihilfen der nationale Verband sowie die Verbände auf der Ebene der Departements der Familienverbände befugt sind, „alle Familien gegenüber den Behörden offiziell zu vertreten und insbesondere die Vertreter der Familien in den verschiedenen Beiräten, Versammlungen und anderen vom Staat, den Regionen, den Departements und den  Gemeinden geschaffenen Einrichtungen zu bestimmen oder vorzuschlagen“;

 

2. In Erwägung dessen, dass nach Auffassung des Antragstellers das „absolute Monopol“ zugunsten des Dachverbandes Union nationale des associations familiales für die Vertretung sämtlicher Familienverbände gegenüber den staatlichen Stellen verletze den Grundsatz der Gleichheit zwischen den Familienverbänden und dem Verband Union nationale des associations familiales; dass im Übrigen zum einen auch die Meinungsfreiheit der Familienverbände und der Pluralismus der Geistesrichtungen und zum anderen die Vereinigungsfreiheit verletzt seien;

 

- ÜBER DEN GLEICHHEITSSATZ:

 

3. In Erwägung dessen, dass Artikel 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bestimmt, dass das Gesetz „für alle gleich sein [soll], mag es beschützen, mag es bestrafen“; dass das Gleichheitsgebot dem Gesetzgeber weder verbietet, verschiedene Sachverhalte verschieden zu regeln, noch aus Gründen des Allgemeininteresses vom Gleichheitssatz abzuweichen, solange in beiden Fällen, die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung in direktem Zusammenhang mit dem Gesetz steht, welches sie begründet;

 

4. In Erwägung dessen, dass das erste Kapitel von Titel I des Buches II des Gesetzbuches über Sozial- und Familienbeihilfen die „Familienverbände“ betrifft; dass zum einen Artikel L. 211-1 dieses Gesetzbuches Familienverbände als Verbände definiert, deren „Hauptzweck die Wahrung aller materiellen und immateriellen Interessen entweder aller Familien oder bestimmter Kategorien von Familien ist“; dass diese Vereinigungen gemäß Titel I des oben genannten Gesetzes vom 1. Juli 1901 frei gegründet werden; das zum anderen die Artikel L. 211-2 bis L. 211-12 desselben Gesetzbuches die rechtlichen Regelungen über die Verbände der Familienvereinigungen auf Ebene der Departements und über den entsprechenden Verband auf nationaler Ebene enthalten; dass sie bestimmen, dass diese gemeinnützigen Dachverbände auf der Ebene der Departements wie auf der nationalen Ebene von den Familienverbänden gebildet werden, die ihnen beizutreten wünschen; dass sie ihren Verbandszweck, die Regeln für ihre Zusammensetzung und einige Grundsätze ihrer Leitung festlegen; dass gemäß diesen Vorschriften die Satzung und die Geschäftsordnung dieser Verbände einer behördlichen Genehmigung bedürfen;

 

5. In Erwägung dessen, dass in Anbetracht der Regeln zu ihrer Gründung, zu ihrer Arbeitsweise und zu ihrer Zusammensetzung, sowie in Anbetracht der Aufgaben die ihnen von Gesetzes wegen zugewiesen werden, der nationale Dachverband und die Dachverbände auf der Ebene der Departements sich nicht in der gleichen Rechtssituation befinden wie die Familienverbände, die ihnen beitreten können; dass der Gesetzgeber im Übrigen durch die Bestätigung der Vertretungsbefugnis der Dachverbände auf nationaler Ebene wie auf der Ebene der Departements gewährleisten wollte, dass die Familien gegenüber den staatlichen Stellen durch eine vom Gesetz eingerichtete Vereinigung, der alle Familienverbände angehören, die ihr beizutreten wünschen, offiziell vertreten werden; dass er damit ein Ziel des Allgemeininteresses verfolgt hat; dass daher die auf eine Verletzung des Gleichheitssatzes gestützte Rüge zurückgewiesen werden muss;

 

- ÜBER DIE MEINUNGSFREIHEIT UND DAS VERFASSUNGSRECHTLICHE ZIEL DES PLURALISMUS DER GEISTESRICHTUNGEN:

 

6. In Erwägung dessen, dass, erstens, Artikel 11 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 lautet: „Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen“; dass die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit ein umso wertvolleres Gut darstellt, da ihre Ausübung eine unerlässliche Voraussetzung für die Demokratie ist und eine der Garantien für die Achtung der anderen Grundrechte und Freiheiten darstellt; dass die Eingriffe in die Ausübung dieser Freiheit gemessen an dem verfolgten Ziel notwendig, zweckdienlich und verhältnismäßig sein müssen;

 

7. In Erwägung dessen, dass der letzte Absatz von Artikel L. 211-3 des Gesetzbuches über Sozial- und Familienbeihilfen bestimmt: „Jeder Familienverband oder Dachverband von Familienvereinigungen ist auch weiterhin im Rahmen seiner Satzung befugt, gegenüber den Behörden die Interessen zu vertreten, die in seiner Verantwortung liegen“; dass sich daraus ergibt, dass, wenngleich der dritte Absatz dieses Artikels eine behördliche Anerkennung der Vertretungsbefugnis des nationalen Dachverbandes der Familienvereinigungen und der Dachverbände dieser Vereinigungen auf der Ebene der Departments vorschreibt, so können die staatlichen Stellen auch die Interessen und Positionen berücksichtigen, die von Familienvereinigungen nach Artikel L. 211-1 desselben Gesetzbuches vertreten werden; dass die gerügte Bestimmung keinen Eingriff in die Freiheit dieser Vereinigungen darstellt, die Positionen, die sie vertreten, bekanntzumachen; dass daher die auf eine Verletzung der Meinungsfreiheit dieser Vereinigungen gestützte Rüge nicht begründet ist;

 

8. In Erwägung dessen, dass, zweitens, die gerügte gesetzliche Bestimmung weder das politische Leben noch die Medien zum Gegenstand hat; dass daher die auf eine Missachtung des verfassungsrechtlichen Zieles des Pluralismus der Geistesrichtungen gestützte Rüge verfehlt ist;

 

- ÜBER DIE VEREINIGUNGSFREIHEIT:

 

9. In Erwägung dessen, dass die Vereinigungsfreiheit zu den wesentlichen Grundsätzen zählt, die von den Gesetzen der Republik anerkannt sind und feierlich von der Präambel der Verfassung bestätigt werden; dass gemäß diesem Grundsatz Vereine frei gegründet und unter dem einzigen Vorbehalt einer vorherigen Gründungserklärung öffentlich gemacht werden können; dass daher, mit Ausnahme der Maßnahmen, die in Bezug auf besondere Kategorien von Vereinen ergriffen werden können, die Gründung von Vereinen, selbst wenn diese nichtig oder mit einem gesetzeswidrigen Ziel erscheinen, in Bezug auf ihre Gültigkeit nicht einer vorherigen Intervention der Behörden oder sogar der Gerichte unterworfen werden kann;

 

10. In Erwägung dessen, dass die in Artikel L. 211-1 des Gesetzbuches über Sozial- und Familienbeihilfen genannten Familienverbände gemäß dem oben genannten Gesetz vom 1. Juli 1901 frei gebildet werden können; dass es ihnen freisteht, dem nationalen Dachverband oder den Dachverbänden der Familienvereinigungen auf Ebene der Departments gemäß den Voraussetzungen der Artikel L. 211-4 und L. 211-5 desselben Gesetzbuches beizutreten oder nicht; dass diese Familienverbände sich im Übrigen nach von ihnen festgelegten Modalitäten frei zusammenschließen können; dass daher die gerügte Bestimmung keinen Eingriff in die Vereinigungsfreiheit darstellt;

 

11. In Erwägung dessen, dass die gerügte Bestimmung auch nicht gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstößt,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - Absatz 3 von Artikel L. 211-3 des Gesetzbuches über Sozial - und Familienbeihilfen ist verfassungsgemäß.

 

Artikel 2 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 27. Mai 2010, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Jacques CHIRAC, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL, Jean-Louis PEZANT und Pierre STEINMETZ.