Umweltschutzvereinigung (France Nature Environnement) - 2012-262 QPC

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 17. April 2012 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Staatsrat (Beschluss Nr. 356349 vom 17. April 2012) bezüglich einer von der Umweltschutzvereinigung France Nature Environnement erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des letzten Satzes des Absatzes 1 von Artikel L. 512-5 des Umweltgesetzbuches in der Fassung von Ziffer 2o des Absatzes I von Artikel 97 des Gesetzes Nr. 2011-525 vom 17. Mai 2011 zur leichteren Verständlichkeit und zur Verbesserung des Rechts mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf das Umweltgesetzbuch;

 

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2010-788 vom 12. Juli 2010, nationale Verpflichtung zum Umweltschutz;

 

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2011-525 vom 17. Mai 2011 zur leichteren Verständlichkeit und zur Verbesserung des Rechts;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die für die als Nebenintervenienten auftretenden Unternehmen Yprema, Modus Valoris, Valenseine, Lingenheld Environnement und Moroni von Herrn RA Carl Enckell, Rechtsanwalt der Anwaltskammer von Paris, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 9. Mai 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 9. Mai 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme der antragstellenden Vereinigung, eingetragen am 23. Mai 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr RA Benoist Busson, Rechtsanwalt der Anwaltskammer von Paris, für die antragstellende Vereinigung, Herr RA Enckell für die als Nebenintervenienten auftretenden Unternehmen sowie Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 26. Juni 2012 gehört worden sind;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass der letzte Satz des Absatzes 1 von Artikel L. 512-5 des Umweltgesetzbuches in der Fassung von Ziffer 2o des Absatzes I von Artikel 97 des oben genannten Gesetzes Nr. 2011-525 vom 17. Mai 2011 bestimmt: „Entwürfe über technische Regeln und Vorschriften werden vor ihrer Übermittlung an den Hohen Rat für die Vorbeugung technologischer Gefahren bekanntgemacht, gegebenenfalls auf elektronischem Wege“;

 

2. In Erwägung dessen, dass die antragstellende Vereinigung vorträgt, diese Vorschrift verletze den von Artikel 7 der Umweltcharta geschützten Grundsatz der Beteiligung der Öffentlichkeit, da sie keine Regelung für die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung der allgemeinen Vorschriften über klassifizierte und genehmigungsbedürftige Anlagen vorsehe;

 

3. In Erwägung dessen, dass der erste Absatz von Artikel 61-1 der Verfassung bestimmt: „Wird bei einem vor Gericht anhängigen Rechtsstreit vorgebracht, eine gesetzliche Bestimmung verletze die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann nach Vorlage durch den Staatsrat oder den Kassationsgerichtshof der Verfassungsrat zu dieser Frage angerufen werden. Der Staatsrat oder der Kassationsgerichtshof äußert sich binnen einer festgelegten Frist“; dass die Behauptung einer Verkennung des Umfangs der Zuständigkeit des Gesetzgebers durch diesen selbst nur dann zur Bekräftigung einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit vorgebracht werden kann, wenn eines der Rechte oder eine der Freiheiten, die von der Verfassung garantiert werden, berührt ist;

 

4. In Erwägung dessen, dass Artikel 7 der Umweltcharta lautet: „Jedermann hat das Recht, unter den gesetzlich bestimmten Bedingungen und Beschränkungen, Zugang zu den Informationen, über welche die staatlichen Behörden verfügen, zu erhalten und an der Ausarbeitung öffentlicher Beschlüsse mitzuwirken, die einen Einfluss auf die Umwelt haben“; dass diese Vorschrift zu den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zählt; dass es dem Gesetzgeber und, im Rahmen des Gesetzes, den Behörden obliegt, unter Einhaltung der von der Umweltcharta verkündeten Grundsätze die Anwendungsmodalitäten dieser Vorschriften festzulegen;

 

5. In Erwägung dessen, dass die Vorschriften des Artikels L. 512-5 des Umweltgesetzbuches die zum Zwecke des Umweltschutzes klassifizierten und genehmigungsbedürftigen Anlagen betreffen; dass zum Schutz der von Artikel L. 511-1 des Umweltgesetzbuches genannten Rechtsgüter der für klassifizierte Anlagen zuständige Minister durch Erlass und nach Stellungnahme der betroffenen Minister sowie des Hohen Rates für die Vorbeugung technologischer Gefahren allgemeine Regelungen und technische Vorschriften festlegen kann, welche auf solche Anlagen anwendbar sind; dass diese Regelungen und technischen Vorschriften die Maßnahmen bestimmen, die geeignet sind, möglichen Unfallgefahren oder Umweltverschmutzungen aller Art vorzubeugen und solche Risiken zu mindern; dass besagte Regelungen und Vorschriften auch die Voraussetzungen für die Eingliederung der betreffenden Anlage in die Umwelt und für die Wiederinstandsetzung des Standortes nach Beendigung des Betriebes der Anlage festlegen; dass gemäß der angegriffenen Vorschrift die Entwürfe über Regelungen und technische Vorschriften vor ihrer Übermittlung an den vorgenannten Hohen Rat für die Vorbeugung technologischer Gefahren bekannt gemacht werden, gegebenenfalls auf elektronischem Wege;

 

6. In Erwägung dessen, dass gemäß dem ersten Absatz von Artikel L. 511-1 des Umweltgesetzbuches als klassifizierte Anlagen definiert werden: „Fabriken, Betriebe, Warenlager, Baustellen, sowie – allgemein – Anlagen, welche einer natürlichen oder juristischen Person öffentlichen oder privaten Rechts gehören oder von einer solchen betrieben werden und für eines der folgenden Güter eine Gefahr oder eine Beeinträchtigung darstellen können: die Annehmlichkeit der Umgebung, das öffentliche Gesundheitswesen, die öffentliche Sicherheit, den Gesundheitsschutz, die Landwirtschaft, den Schutz der Natur, der Umwelt oder der Landschaft, die vernünftige Verwendung von Energie, den Erhalt von Sehenswürdigkeiten, Denkmälern und archäologischen Stätten“; dass infolgedessen die Entwürfe über Regelungen und technische Vorschriften, welche gemäß Artikel L. 512-5 desselben Gesetzbuches von den zum Zwecke des Umweltschutzes klassifizierten und genehmigungsbedürftigen Anlagen eingehalten werden müssen, öffentlich-rechtliche Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Umwelt darstellen;

 

7. In Erwägung dessen, dass, zum einen, die Bestimmungen des Artikels L. 120-1 des Umweltgesetzbuches, welche von Artikel 244 des oben genannten Gesetzes vom 12. Juli 2010 eingefügt wurden, die Voraussetzungen und Maßgaben für die Geltung des von Artikel 7 der Umweltcharta definierten Grundsatzes der Beteiligung der Öffentlichkeit im Rahmen von Verwaltungsanordnungen des Staates und dessen öffentlich-rechtlichen Anstalten festlegen; dass besagte Bestimmungen vorsehen, dass bei Entscheidungen, die eine unmittelbare und wesentliche Einwirkung auf die Umwelt entfalten, entweder der Entscheidungsentwurf vorher elektronisch bekanntgemacht wird, damit die Öffentlichkeit dazu Stellung nehmen kann, oder der Entscheidungsentwurf vor der Anrufung eines mit Vertretern der von der Entscheidung betroffenen Personengruppen besetzten Gremiums, dessen Stellungnahme vorgeschrieben ist, bekanntgemacht wird; dass die Bestimmungen des Artikels L. 120-1 jedoch nur dann Anwendung finden, sofern keine Sonderregelung über die Beteiligung der Öffentlichkeit greift; dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des angegriffenen letzten Satzes von Absatz 1 von Artikel L. 512-5 des Umweltgesetzbuches durch die Vorschrift von Ziffer 2o des Absatzes I von Artikel 97 des Gesetzes vom 17. Mai 2011 eine solche Sondervorschrift in Bezug auf klassifizierte und genehmigungsbedürftige Anlagen schaffen wollte; dass daher die Entwürfe über bei solchen Anlagen anwendbare Regelungen und technische Vorschriften auf jeden Fall dem Anwendungsbereich von Artikel L. 120-1 entzogen sind;

 

8. In Erwägung dessen, dass, zum anderen, die angegriffene Vorschrift vorsieht, dass Entwürfe über Regelungen und technische Vorschriften für zum Zwecke des Umweltschutzes klassifizierte und genehmigungsbedürftige Anlagen vor ihrer Übermittlung an den vorgenannten Hohen Rat für die Vorbeugung technologischer Gefahren bekannt gemacht werden, gegebenenfalls auf elektronischem Wege; dass weder die angegriffene Vorschrift noch eine andere gesetzliche Bestimmung sicherstellen, dass der Grundsatz der Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung der betreffenden öffentlichen Beschlüsse eingehalten wird; dass der Gesetzgeber daher, als er die angegriffene Bestimmung erließ ohne eine Beteiligung der Öffentlichkeit im Verfahren vorzusehen, den Umfang seiner Zuständigkeit verkannt hat; dass infolgedessen der letzte Satz des Absatzes 1 von Artikel L. 512-5 des Umweltgesetzbuches verfassungswidrig ist;

 

9. In Erwägung dessen, dass Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“; dass wenngleich grundsätzlich die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen soll und die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden darf, so behält die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung dem Verfassungsrat vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind; dass die sofortige Aufhebung der für verfassungswidrig erklärten Vorschrift lediglich zur Folge hätte, die Bestimmungen aus der Rechtsordnung zu entfernen, die eine Unterrichtung der Öffentlichkeit erlauben, ohne dabei den sich aus dem Grundsatz der Beteiligung der Öffentlichkeit ergebenden Anforderungen zu genügen; dass daher der Zeitpunkt der Aufhebung dieser Vorschrift auf den 1. Januar 2013 verschoben wird,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - Der letzte Satz des Absatzes 1 von Artikel L. 512-5 des Umweltgesetzbuches ist verfassungswidrig.

 

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab dem 1. Januar 2013 gemäß den in der Erwägung Nr. 9 festgelegten Voraussetzungen wirksam.

 

Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 12. Juli 2012, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

 

Veröffentlicht am 13. Juli 2012.