Rechtsanwaltskammer von Bastia

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 23. Dezember 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Staatsrat (Beschluss Nr. 354200 vom 23. Dezember 2011) bezüglich einer von der Rechtsanwaltskammer von Bastia erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel 706-88-2 der Strafprozessordnung in der Fassung des Gesetzes Nr. 2011-392 vom 14. April 2011 über den Polizeigewahrsam mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf die Strafprozessordnung;

 

Unter Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch;

 

Unter Bezugnahme auf Gesetz Nr. 2011-392 vom 14. April 2011 über den Polizeigewahrsam;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die für die Antragstellerin von Herrn RA Patrice Spinosi, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassener Anwalt, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 16. Januar und am 31. Januar 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 16. Januar 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die von der als Nebenintervenienten auftretenden Rechtsanwaltskanzlei Masse-Dessen und Thouvenin im Namen des Berufsverbandes der Rechtsanwälte Frankreichs eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 13. Januar 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die vom Nebenintervenienten Herrn Philippe K. eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 13. Januar 2012;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr RA Patrice Spinosi für die Antragstellerin, Frau RAin Hélène Masse-Dessen im Namen des als Nebenintervenienten auftretenden Berufsverbandes, sowie Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2012 gehört worden sind;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass der Artikel 706-88-2 der Strafprozessordnung bestimmt: „Wurde die betroffene Person wegen des Verdachts einer der in Punkt 11o von Artikel 706-73 genannten Straftaten vorläufig festgenommen, kann der zuständige Haftrichter – wenn er vom Oberstaatsanwalt auf Antrag des zuständigen höheren Kriminalbeamten angerufen wird – oder der Ermittlungsrichter, wenn der Polizeigewahrsam im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens erfolgt, verfügen, dass der vorläufig Festgenommene den Beistand eines Rechtsanwaltes erhalten soll, der vom Präsidenten der Rechtsanwaltskammer bestellt und unter den Rechtsanwälten ausgewählt wird, die auf einer vom Dachverband der Anwaltskammern auf Vorschlag des Vorstands jeder Anwaltskammer aufgestellten Liste der dazu befugten Rechtsanwälte eingetragen sind.

Näheres regelt ein Dekret nach Stellungnahme des Staatsrates“;

 

2. In Erwägung dessen, dass der Antragsteller behauptet, diese Vorschrift verletze die Rechte der Verteidigung sowie den Grundsatz der Gleichheit aller vor der Justiz, da sie dem Haftrichter beziehungsweise dem Ermittlungsrichter erlaubt, von Amts wegen einen Rechtsanwalt als Beistand eines wegen des Verdachts einer von Punkt 11o von Artikel 706-73 der Strafprozessordnung genannten Straftat vorläufig Festgenommenen zu bestellen, und sie darüber hinaus keine objektiven und zweckmäßigen Kriterien für den Eingriff in die Freiheit der Anwaltswahl festlegt;

 

3. In Erwägung dessen, dass Artikel 61-1 der Verfassung bestimmt: „Wird bei einem vor Gericht anhängigen Rechtsstreit vorgebracht, eine gesetzliche Bestimmung verletze die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann nach Vorlage durch den Staatsrat oder den Kassationsgerichtshof der Verfassungsrat zu dieser Frage angerufen werden. Der Staatsrat oder der Kassationsgerichtshof äußert sich binnen einer festgelegten Frist“; dass die Behauptung einer Verkennung des Umfangs der Zuständigkeit des Gesetzgebers durch diesen selbst nur dann zur Bekräftigung einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit vorgebracht werden kann, wenn eines der Rechte oder eine der Freiheiten, die von der Verfassung garantiert werden, berührt ist;

 

4. In Erwägung dessen, dass der Gesetzgeber aufgrund von Artikel 34 der Verfassung gehalten ist, den Anwendungsbereich des Strafrechts selbst festzulegen; dass dies auch bezüglich des Strafprozessrechts geboten ist, insbesondere um jede nicht notwendige Härte bei der Ermittlung von Straftätern zu vermeiden;

 

5. In Erwägung dessen, dass es dem Gesetzgeber obliegt, einerseits die Verhinderung von Angriffen auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere auf Menschen und Vermögenswerte, sowie die Fahndung nach Straftätern – beides unerlässlich zum Schutz verfassungsrechtlicher Rechte und Grundsätze – und andererseits den Schutz der von der Verfassung verbürgten Rechte und Freiheiten miteinander in Einklang zu bringen; dass zu letzteren die von Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 gebotene Einhaltung der Rechte der Verteidigung zählt;

 

6. In Erwägung dessen, dass die angegriffene Vorschrift für die Dauer eines Polizeigewahrsams wegen eines als terroristische Handlung qualifizierten und von den Artikeln 421-1 bis 421-6 des Strafgesetzbuches geahndeten Verbrechens oder Vergehens eine Einschränkung der Freiheit der Wahl eines Rechtsanwalts erlaubt; dass der Gesetzgeber damit der Schwierigkeit und der Schwere dieser Art von Verbrechen und Vergehen, sowie der Notwendigkeit, in derartigen Fällen besondere Vorschriften für den Schutz der Ermittlungsergebnisse vorzusehen, Rechnung tragen wollte;

 

7. In Erwägung dessen, dass die Freiheit eines Verdächtigen, seinen Rechtsanwalt zu bestimmen, während der Dauer seines Polizeigewahrsams zwar ausnahmsweise zeitweilig ausgesetzt werden kann, um die Fahndung nach Personen, die als terroristisch eingestufte Verbrechen oder Vergehen begangen haben, nicht zu gefährden oder um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, der Gesetzgeber dabei jedoch die Voraussetzungen und Modalitäten für einen derartigen Eingriff in die Rechte der Verteidigung festzulegen hat; dass die angegriffene Vorschrift sich lediglich darauf beschränkt, bezüglich einer bestimmten Art von Straftaten vorzusehen, dass der Richter verfügen kann, dass der vorläufig Festgenommene den Beistand eines Rechtsanwaltes erhalten soll, der vom Präsidenten der Rechtsanwaltskammer bestellt und unter den Rechtsanwälten ausgewählt wird, die auf einer vom Dachverband der Anwaltskammern auf Vorschlag des Vorstands jeder Anwaltskammer aufgestellten Liste der dazu befugten Rechtsanwälte eingetragen sind; dass die angegriffene Bestimmung weder die Begründung eines solchen Beschlusses vorschreibt, noch die besonderen Umstände eines Ermittlungsverfahrens und die Gründe definiert, die einen solchen Eingriff in die Rechte der Verteidigung rechtfertigen sollen; dass der Gesetzgeber, indem er die angegriffene Bestimmung erließ, ohne dabei die Befugnis des Richters einzugrenzen, dem vorläufig Festgenommenen das Recht auf die freie Wahl eines Rechtsanwalts zu entziehen, den Umfang seiner eigenen Zuständigkeit in einer Art und Weise verkannt hat, welche die Rechte der Verteidigung verletzt; dass der Artikel 706-88-2 der Strafprozessordnung daher für verfassungswidrig erklärt werden muss;

 

8. In Erwägung dessen, dass Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“; dass wenngleich grundsätzlich die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen soll und die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden darf, so behält die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung dem Verfassungsrat vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind;

 

9. In Erwägung dessen, dass die Aufhebung des Artikels 706-88-2 der Strafprozessordnung mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam wird; dass diese Aufhebung gegenüber jedem ab diesem Zeitpunkt durchgeführten Polizeigewahrsam wirksam ist,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - Der Artikel 706-88-2 der Strafprozessordnung ist verfassungswidrig.

 

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 9 festgelegten Voraussetzungen wirksam.

 

Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 16. Februar 2012, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

 

Veröffentlicht am 17. Februar 2012.