Herr Mathieu P.

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 9. Juli 2010 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Staatsrat (Beschluss Nr. 337320 vom 9. Juli 2010) bezüglich einer von Herrn Mathieu P. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel L. 45 des Gesetzbuches über das Post- und Telekommunikationswesen mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf das Gesetzbuch über das Post- und Telekommunikationswesen;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Antragstellers, eingetragen am 29. Juli 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die für die französische Domain-Verwaltungsstelle (Association française pour le nommage internet en coopération – AFNIC) von der Rechtsanwaltskanzlei Piwnica und Molinié, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 9. August 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 10. August 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die entgegnende Stellungnahme der AFNIC, eingetragen am 24. August 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die entgegnende Stellungnahme des Antragstellers, eingetragen am 25. August 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr François Gilbert für den Antragsteller, Herr RA Emmanuel Piwnica für die AFNIC, sowie Herr Thierry-Xavier Girardot, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2010 gehört worden sind;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass Artikel L. 45 des Gesetzbuches über das Post- und Telekommunikationswesen lautet: „I. Der für die elektronische Kommunikation zuständige Minister bestimmt nach öffentlicher Anhörung die Stellen, welche für die Vergabe und Verwaltung von Domain-Namen auf der Ebene unterhalb der Top-Level-Domains, welche dem Staatsgebiet entsprechen, zuständig sein sollen. Die Ausübung dieser Zuständigkeit begründet kein geistiges Eigentum dieser Stellen an den Domain-Namen.

Die Vergabe eines Domain-Namens erfolgt im Allgemeininteresse durch diese Stellen, und zwar nach Regeln, welche nicht diskriminierend sind, öffentlich bekannt gemacht sind und sicherstellen, dass der Antragsteller bestehende Urheberrechte beachtet.

Geben diese Stellen ihre Tätigkeit auf, geht das Nutzungsrecht an der Datenbank, welche die verwalteten Domain-Namen enthält, auf den Staat über.

Der für die elektronische Kommunikation zuständige Minister wacht über die Einhaltung der im zweiten Absatz genannten Grundsätze durch besagte Stellen. Verletzt eine solche Stelle die Vorschriften des vorliegenden Artikels, kann der Minister ihr, nachdem er dieser Einrichtung Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben hat, die Zuständigkeit entziehen. Gegen die Entscheidung des für die elektronische Kommunikation zuständigen Ministers, einer Stelle die Zuständigkeit zu verleihen oder zu entziehen, ist der Rechtsweg vor dem Staatsrat gegeben. Jede Einrichtung übermittelt dem für die elektronische Kommunikation zuständigen Minister einen Jahresbericht über ihre Tätigkeit.

Die Vergabe und Verwaltung von Domains unterhalb der Top-Level-Domains erfolgen zentral durch eine einzige Stelle.

Sofern erforderlich legt ein Dekret nach Stellungnahme des Staatsrates die genaueren Anwendungsbestimmungen des vorliegenden Artikels fest.

II. Unbeschadet ihrer Anwendung von Rechts wegen auf Mayotte gemäß Punkt 8o von § I des Artikels 3 des Gesetzes Nr. 2001-616 vom 11. Juli 2001 über Mayotte, sind die Bestimmungen des § I auf Wallis und Futuna, sowie in den französischen Süd- und Antarktisgebieten anwendbar.

Die in Neukaledonien und Französisch-Polynesien für die Vergabe von Domain-Namen zuständigen Stellen besitzen kein geistiges Eigentum an diesen Namen“;

 

2. In Erwägung dessen, dass der Antragsteller rügt, diese Vorschriften ließen der Verwaltung und den von dieser benannten Stellen einen unverhältnismäßigen Spielraum bei der Festlegung der Grundsätze zur Vergabe von Domain-Namen und versäumten es somit einen Mindestrahmen und Grenzen für die Tätigkeit dieser Stellen zu setzen; dass der Gesetzgeber daher seine Zuständigkeit nicht vollumfänglich ausgeübt habe;

 

3. In Erwägung dessen, dass Artikel 61-1 der Verfassung bestimmt: „Wird bei einem vor Gericht anhängigen Rechtsstreit vorgebracht, eine gesetzliche Bestimmung verletze die von der Verfassung verbürgten Rechte und Freiheiten, kann nach Vorlage durch den Staatsrat oder den Kassationsgerichtshof der Verfassungsrat zu dieser Frage angerufen werden. Der Staatsrat oder der Kassationsgerichtshof äußert sich binnen einer festgelegten Frist“; dass die Behauptung einer Verkennung des Umfangs der Zuständigkeit des Gesetzgebers durch diesen selbst nur dann zur Bekräftigung einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit vorgebracht werden kann, wenn eines der Rechte oder eine der Freiheiten, die von der Verfassung garantiert werden, berührt ist;

 

4. In Erwägung dessen, dass, zum einen, Artikel 34 der Verfassung bestimmt: „Durch Gesetz werden die Grundsätze geregelt für: […] das zivil- und handelsrechtliche Schuldrecht“; dass zu diesen Grundsätzen des zivil- und handelsrechtlichen Schuldrechts insbesondere diejenigen Bestimmungen gehören, die das Bestehen schuldrechtlicher Verpflichtungen betreffen;

 

5. In Erwägung dessen, dass, zum anderen, die Unternehmerfreiheit aus Artikel 4 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 folgt; dass Artikel 11 dieser Erklärung verkündet: „Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen“; dass die Eigentumsgarantie zu den von den Artikeln 2 und 17 der Erklärung von 1789 verbürgten Menschenrechten zählt; dass beim gegenwärtigen technischen Stand der Kommunikationsmittel und in Anbetracht der allgemeinen Verbreitung von Online-Kommunikationsdiensten, sowie der wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung dieser Dienste, die Einrichtung von Rahmenbedingungen, welche sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen betreffen, für die Verwendung von Domain-Namen im Internet das geistige Eigentum, die Kommunikationsfreiheit und die Unternehmerfreiheit betrifft;

 

6. In Erwägung dessen, dass gemäß Artikel L. 45 des Gesetzbuches über das Post- und Telekommunikationswesen die Vergabe und Verwaltung von Domain-Namen „auf der Ebene unterhalb der Top-Level-Domains, welche dem Staatsgebiet entsprechen“, bei vom für die elektronische Kommunikation zuständigen Minister bestimmten Stellen liegt; dass diese Vorschrift sich darauf beschränkt vorzusehen, dass die Vergabe eines Domain-Namens durch diese Stellen „im Allgemeininteresse […], und zwar nach Regeln, welche nicht diskriminierend sind, öffentlich bekannt gemacht sind und sicherstellen, dass der Antragsteller bestehende Urheberrechte beachtet“, erfolgt; dass diese Vorschrift für die weitere Ausgestaltung der Anwendungsbestimmungen auf ein Dekret nach Stellungnahme des Staatsrates verweist; dass der Gesetzgeber damit zwar das geistige Eigentumsrecht geschützt hat, jedoch die Zuständigkeit, die Voraussetzungen festzulegen, gemäß welchen Domain-Namen vergeben oder ihre Vergabe verlängert, verweigert oder entzogen wird, vollständig übertragen hat; dass keine weitere gesetzliche Bestimmung Gewährleistungen einrichtet, welche eine Verletzung der Unternehmerfreiheit sowie des Artikels 11 der Erklärung von 1789 verhindern sollen; dass der Gesetzgeber daher seine Zuständigkeit nicht vollumfänglich ausgeübt hat; dass der Artikel L. 45 des Gesetzbuches über das Post- und Telekommunikationswesen aus diesem Grund für verfassungswidrig erklärt werden muss;

 

7. In Erwägung dessen, dass der Verfassungsrat über keinen allgemeinen Wertungs- und Entscheidungsspielraum wie den des Parlaments verfügt; dass es ihm nicht zusteht, die Grundsätze des zivil- und handelsrechtlichen Schuldrechts zu weisen, welche durchgesetzt werden müssen, um die festgestellte Verfassungswidrigkeit zu bereinigen; dass in Anbetracht der großen Anzahl an Domain-Namen, welche auf der Grundlage von Artikel L. 45 des Gesetzbuches über das Post- und Telekommunikationswesen vergeben worden sind, die sofortige Aufhebung dieser Vorschrift für die Rechtssicherheit offensichtlich unverhältnismäßige Folgen nach sich zöge; dass daher der Zeitpunkt der Aufhebung dieser Bestimmungen auf den 1. Juli 2011 verschoben wird, um es dem Gesetzgeber zu ermöglichen, seine Zuständigkeit vollumfänglich auszuüben; dass auf der Grundlage dieses Artikels ergangene Rechtsverordnungen erst ab besagtem Zeitpunkt die Rechtsgrundlage entzogen ist; dass die weiteren vor diesem Zeitpunkt gemäß den für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen ergriffenen Maßnahmen nicht auf der Grundlage dieser Verfassungswidrigkeit angefochten werden können,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - Artikel L. 45 des Gesetzbuches über das Post- und Telekommunikationswesen wird für verfassungswidrig erklärt.

 

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird am 1. Juli 2011 wirksam, gemäß den in der Erwägung Nr. 7 der vorliegenden Entscheidung festgelegten Voraussetzungen.

 

Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 5. Oktober 2010, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT und Pierre STEINMETZ.