Herr Louis C. und andere

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 6. Juli 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Erster Zivilsenat, Beschluss Nr. 866 vom 6. Juli 2011) bezüglich einer von Herrn Louis C., Frau Jacqueline P. und Herrn Lucien C. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des letzten Satzes von Artikel 16-11 Absatz 5 des Zivilgesetzbuches mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf das Zivilgesetzbuch;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die für die Beklagten von der Rechtsanwaltskanzlei Vincent-Ohl, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 25. Juli 2011;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 28. Juli 2011;

 

Unter Bezugnahme auf die für die Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Waquet-Farge-Hazan, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 12. August 2011;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr RA Farge für die Antragsteller und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 20. September 2011 gehört worden sind;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass der Artikel 16-11 des Zivilgesetzbuches diejenigen Fälle aufführt, in denen die Feststellung der Identität einer Person anhand ihres genetischen Fingerabdrucks ermittelt werden darf; dass der fünfte Absatz dieser Vorschrift bestimmt, dass im Zivilrecht die Feststellung der Nämlichkeit auf diese Art nur dann erfolgen kann, wenn sie gerichtlich im Rahmen eines Rechtsstreits über die Feststellung oder die Anfechtung eines Abstammungsverhältnisses, beziehungsweise über die Forderung nach oder die Aufhebung von Unterhaltsleistungen angeordnet wurde; dass die Vorschrift im Übrigen vorsieht, dass die ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen vorher einzuholen ist; dass der letzte Satz des fünften Absatzes der angegriffenen Norm lautet: „ Ausgenommen, die betroffene Person hat zu ihren Lebzeiten einer solchen Maßnahme ausdrücklich zugestimmt, ist nach ihrem Dahinscheiden eine Identitätsfeststellung anhand ihres genetischen Fingerabdrucks nicht zulässig “;

 

2. In Erwägung dessen, dass die Antragsteller behaupten, das Verbot, im Rahmen eines Rechtsstreits über die Abstammung einer Person an einem bereits Verstorbenen einen Gentest zwecks Feststellung eines Abstammungsverhältnisses durchzuführen, verstoße gegen das Recht auf Achtung der Privatsphäre und das Recht, ein normales Familienleben zu führen; dass die angegriffene Vorschrift darüber hinaus eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen begründe;

 

3. In Erwägung dessen, dass Artikel 34 der Verfassung bestimmt: „Durch Gesetz werden geregelt: [···] der Personenstand [···]“; dass es somit die Aufgabe des Gesetzgebers ist, das Beweisverfahren für die Feststellung oder die Anfechtung von Abstammungsverhältnissen, insbesondere auch dasjenige im Rahmen eines Rechtsstreits, auszugestalten; dass es dem Gesetzgeber jederzeit freisteht, im Rahmen seiner Zuständigkeit neue Regelungen zu erlassen, deren Zweckmäßigkeit er beurteilt, bestehende Gesetze zu ändern oder aufzuheben und sie gegebenenfalls durch neue Regelungen zu ersetzen, sofern er bei der Ausübung dieser Befugnis Vorgaben von Verfassungsrang nicht die gesetzlichen Gewährleistungen entzieht; dass Artikel 61-1 der Verfassung, ebenso wenig wie Artikel 61 der Verfassung, dem Verfassungsrat keinen allgemeinen Wertungs- und Entscheidungsspielraum wie den des Parlaments einräumt; dass dieser Artikel dem Verfassungsrat lediglich die Zuständigkeit überträgt, über die Vereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zu entscheiden;

 

4. In Erwägung dessen, dass, zum einen, Artikel 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verkündet: „ Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung “; dass die von diesem Artikel geschützte Freiheit die Achtung des Privatlebens gebietet; dass, zum anderen, das Recht, ein normales Familienleben zu führen, sich aus dem zehnten Absatz der Präambel der Verfassung von 1946 ergibt, welcher bestimmt: „ Die Nation sichert dem Individuum und der Familie die zu ihrer Entfaltung notwendigen Bedingungen zu“; dass schließlich Artikel 6 der Erklärung von 1789 vorschreibt: „Das Gesetz [···] soll für alle gleich sein, mag es beschützen, mag es bestrafen“; dass das Gleichheitsgebot dem Gesetzgeber weder verbietet, verschiedene Sachverhalte verschieden zu regeln, noch aus Gründen des Allgemeininteresses vom Gleichheitssatz abzuweichen, solange in beiden Fällen die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung in direktem Zusammenhang mit dem Zweck des Gesetzes steht, welches sie begründet;

 

5. In Erwägung dessen, dass der zweite Absatz von Artikel 310-3 des Zivilgesetzbuches im Falle eines Rechtsstreites über ein Abstammungsverhältnis vorsieht, dass „alle Mittel zum Beweis oder zur Widerlegung des Abstammungsverhältnisses zulässig [sind], sofern die Klage selbst zulässig ist“; dass die angegriffene Bestimmung jedoch die Zulässigkeit eines Gentests an einer bereits verschiedenen Person im Rahmen eines Rechtsstreits über die Feststellung oder die Anfechtung eines Abstammungsverhältnisses, beziehungsweise über die Forderung nach oder die Aufhebung von Unterhaltsleistungen, nur dann bejaht, wenn die besagte Person zu ihren Lebzeiten ausdrücklich ihre Zustimmung zur Durchführung einer solchen Maßnahme im Rahmen einer Beweisaufnahme erklärt hatte; dass damit die Prozessparteien einen solchen Gentest am Körper des Verstorbenen, zu welchem ein leibliches Abstammungsverhältnis behauptet oder bestritten wird, außerhalb dieses gesetzlich vorgesehenen Falles nicht begehren können;

 

6. In Erwägung dessen, dass der Gesetzgeber durch die gesetzliche Vermutung, gemäß welcher ein Verstorbener einer Feststellung der Identität anhand seines genetischen Fingerabdrucks gegenüber als grundsätzlich nicht zustimmend gilt, Exhumierungen verhindern und somit die Totenruhe schützen wollte; dass es dem Verfassungsrat bezüglich der Bewertung der gegenüber dem menschlichen Körper gebotenen Achtung nicht zusteht, die vom Gesetzgeber vorgenommene Einschätzung durch seine eigene zu ersetzen; dass daher die Rügen, die Achtung der Privatsphäre und das Recht, ein normales Familienleben zu führen, seien verletzt, zurückgewiesen werden müssen;

 

7. In Erwägung dessen, dass gemäß Artikel 325 des Zivilgesetzbuches im Rahmen eines Verfahrens zur Feststellung der Mutterschaft, die Person, welche das Abstammungsverhältnis behauptet, zu belegen hat, dass sie das Kind ist, das die beklagte Frau zur Welt gebracht hat; dass infolgedessen die Tatsache, dass die angegriffene Bestimmung über den Beweis der Abstammung mittels eines Gentests hauptsächlich in Fällen Anwendung findet, in denen die Vaterschaft strittig ist, keine Ungleichbehandlung begründet, die einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot darstellen würde;

 

8. In Erwägung dessen, dass der letzte Satz von Artikel 16-11 Absatz 5 des Zivilgesetzbuches auch nicht gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstößt,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1.-  Der letzte Satz des fünften Absatzes von Artikel 16-11 des Zivilgesetzbuches ist verfassungsgemäß.

 

Artikel 2.-  Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 29. September 2011, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.