Herr Jeremy F.

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 27. Februar 2013 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 1087 vom 19. Februar 2013) bezüglich einer von Herrn Jeremy F. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel 695-46 Absatz 4 der Strafprozessordnung mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf den Vertrag über die Europäische Union;

 

Unter Bezugnahme auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere dessen Protokoll Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union;

 

Unter Bezugnahme auf die Strafprozessordnung;

 

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2004-204 vom 9. März 2004 zur Anpassung der Justiz an die Entwicklung der Kriminalität, insbesondere Artikel 17 des Gesetzes;

 

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2009-526 vom 12. Mai 2009 zur Vereinfachung und größeren Klarheit des Rechts sowie zur Vereinfachung der Verfahren, insbesondere Artikel 130 des Gesetzes;

 

Unter Bezugnahme auf den Rahmenbeschluss Nr. 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die für den Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Waquet, Farge, Hazan, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 21. und 28. März 2013;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 21. März 2013;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Frau RAin Claire Waquet für den Antragsteller und Herr Thierry-Xavier Girardot, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 2. April 2013 gehört worden sind;

 

Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Verfassungsrates Nr. 2013-314P QPC vom 4. April 2013;

 

Unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 30. Mai 2013, Rechtssache C-168/13 PPU;

 

Unter Bezugnahme auf die weitere für den Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Waquet, Farge, Hazan eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 31. Mai 2013;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass der oben genannte Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 einen Europäischen Haftbefehl geschaffen hat, um die Festnahme und die Übergabe zwischen den Mitgliedstaaten von zwecks Strafverfolgung oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme gesuchten Personen zu vereinfachen und zu beschleunigen; dass der Artikel 17 des oben genannten Gesetzes vom 9. März 2004 in die Strafprozessordnung die Artikel 695-11 bis 695-51 über den Europäischen Haftbefehl eingefügt hat;

 

2. In Erwägung dessen, dass die Artikel 695-26 bis 695-28 der Strafprozessordnung die Vorschriften für den Vollzug eines Europäischen Haftbefehls in Frankreich festlegen; dass der Beschluss über die Übergabe einer Person an die Justizbehörden des den Haftbefehl ausstellenden Staates durch das zuständige Ermittlungsgericht und nach Maßgabe der Artikel 695-29 bis 695-36 der Strafprozessordnung ergeht; dass gemäß Artikel 695-31 Absatz 4 der Strafprozessordnung, für den Fall, dass die gesuchte Person ihrer Übergabe nicht zustimmt, das Ermittlungsgericht darüber binnen einer Frist von 20 Tagen nach der Vorführung dieser Person entscheidet, es sei denn, ergänzende Ermittlungen wurden angeordnet; dass gegen diese Entscheidung des Ermittlungsgerichts Revision zulässig ist; dass der Artikel 695-46 der Strafprozessordnung die Verfahrensbestimmungen festlegt, gemäß welchen Beschlüsse der französischen Justizbehörden nach der Übergabe einer in Frankreich auf der Grundlage eines von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellten Europäischen Haftbefehls festgenommen Person an die Behörden des betreffenden Staates ergehen; dass in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 12. Mai 2009, die ersten beiden Absätze von Artikel 695-46 bestimmen, dass das Ermittlungsgericht zuständig ist, um über Anträge der zuständigen Behörden des den Europäischen Haftbefehl ausstellenden Mitgliedstaates zu entscheiden und entweder eine Strafverfolgung oder die Vollstreckung einer wegen einer anderen, vor der Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls begangenen strafbaren Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme oder die Übergabe der gesuchten Person an einen anderen Mitgliedstaat zwecks Strafverfolgung oder zwecks Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme wegen einer vor der Übergabe begangenen und von der die Übergabe begründenden Straftat verschiedenen Handlung zu bewilligen; dass der vierte Absatz von Artikel 695-46 der Strafprozessordnung bestimmt: „Bevor die Entscheidung des Ermittlungsgerichts ergeht, prüft dieses, ob der Antrag auch die gemäß Artikel 695-13 erforderlichen Angaben enthält, und holt gegebenenfalls binnen einer Frist von dreißig Tagen nach Eingang des Antrags Zusagen in Bezug auf die Einhaltung der Vorschriften des Artikels 695-32 ein. Gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts sind keine Rechtsmittel gegeben“;

 

3. In Erwägung dessen, dass der Antragsteller behauptet, durch den Ausschluss von Rechtsbehelfen gegen einen Beschluss des Ermittlungsgerichts, welcher der Ausweitung der Rechtswirkungen eines Europäischen Haftbefehls auf andere strafbare Handlungen als diejenigen, die der Übergabe einer Person an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugrunde liegen, zustimmt, verletzten die Bestimmungen des vierten Absatzes von Artikel 695-46 der Strafprozessordnung das Gebot der Gleichheit aller Bürger vor der Justiz und das Recht auf effektiven Rechtsschutz;

 

4. In Erwägung dessen, dass Gegenstand der vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit die Worte „Gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts sind keine Rechtsmittel gegeben“ in Absatz 4 von Artikel 695-46 sind;

 

5. In Erwägung dessen, dass, zum einen, Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verkündet: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“; dass aus dieser Vorschrift folgt, dass in das Recht der Klagebefugten auf effektiven Rechtsschutz durch ein Gericht nicht wesentlich eingegriffen werden darf; dass gemäß Artikel 6 der Erklärung von 1789 das Gesetz „für alle gleich sein [soll], mag es beschützen, mag es bestrafen“; dass der Gesetzgeber zwar je nach Sachverhalt, Tatbestand oder den beteiligten Personen unterschiedliche Verfahrensregeln aufstellen kann, dies jedoch nur unter der Voraussetzung zu geschehen vermag, dass diese Ungleichbehandlungen keine ungerechtfertigten Unterscheidungen vornehmen und dass den Rechtssuchenden die gleichen Rechte gewährt werden, vor allem in Bezug auf den Grundsatz der Einhaltung der Rechte der Verteidigung, welcher insbesondere bedeutet, dass ein faires Verfahren vorgesehen sein muss, das die Ausgewogenheit der Rechte der Verfahrensbeteiligten gewährleistet;

 

6. In Erwägung dessen, dass, zum anderen, Artikel 88-2 der Verfassung vorschreibt: „Das Gesetz legt die Vorschriften betreffend den Europäischen Haftbefehl in Anwendung der von den Institutionen der Europäischen Union erlassenen Rechtsakte fest“; dass der Verfassungsgesetzgeber mit dieser Sondervorschrift die verfassungsrechtlichen Hemmnisse aufheben wollte, die der Verabschiedung gesetzlicher Vorschriften entgegenstanden, welche aus den Rechtsakten der Europäischen Union über den Europäischen Haftbefehl notwendigerweise folgen; dass infolgedessen der Verfassungsrat im Rahmen einer Anrufung bezüglich gesetzlicher Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl nur diejenigen gesetzlichen Vorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen hat, die der Gesetzgeber in Ausübung des ihm gemäß den Bestimmungen von Artikel 34 des Vertrags über die Europäische Union in der jeweils gültigen Fassung zustehenden eigenen Entscheidungsspielraums erlassen hat;

 

7. In Erwägung dessen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Verfassungsrates (oben genannte Entscheidung des Verfassungsrates vom 4. April 2013) für Recht erkannt hat: „Art. 27 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, einen Rechtsbehelf vorzusehen, mit dem der Vollzug der Entscheidung der Justizbehörde ausgesetzt wird, die binnen 30 Tagen nach Eingang des Ersuchens ergeht, um ihre Zustimmung dazu zu erteilen, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls begangenen strafbaren Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, oder dazu, dass eine Person einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, dem eine vor der genannten Übergabe begangene strafbare Handlung zugrunde liegt, übergeben wird, soweit die endgültige Entscheidung unter Einhaltung der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen erlassen wird“;

 

8. In Erwägung dessen, dass die Vorschrift des vierten Absatzes von Artikel 695-46 der Strafprozessordnung, gemäß welcher „gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts […] keine Rechtsmittel gegeben“ sind, sich nicht notwendigerweise aus den Rechtsakten der Europäischen Union über den Europäischen Haftbefehl ableitet; dass der auf der Grundlage von Artikel 61-1 der Verfassung angerufene Verfassungsrat zuständig ist, um die Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschrift mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zu prüfen;

 

9. In Erwägung dessen, dass nach der Übergabe einer in Frankreich aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person an die Behörden des den Haftbefehl ausstellenden Staates das Ermittlungsgericht, wenn es gemäß Artikel 695-46 der Strafprozessordnung bezüglich eines Antrags auf Ausweitung dieses Haftbefehls auf andere strafbare Handlungen – möglicherweise sogar schwerwiegendere als die der Übergabe zugrunde liegenden Straftaten – oder auf Ausweitung dieses Haftbefehls zwecks Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme angerufen wird, die formalen Überprüfungen sowie eine rechtliche Würdigung der betreffenden strafbaren Handlungen, Verurteilungen und Maßnahmen vorzunehmen hat; dass die angegriffene Vorschrift, durch den Ausschluss einer Revision gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts zu einem solchen Antrag, eine ungerechtfertigte Einschränkung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz vornimmt; dass daher im vierten Absatz von Artikel 695-46 der Strafprozessordnung die Worte „Gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts sind keine Rechtsmittel gegeben“ für verfassungswidrig erklärt werden müssen;

 

10. In Erwägung dessen, dass Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“; dass wenngleich grundsätzlich die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen soll und die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden darf, so behält die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung dem Verfassungsrat vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind;

 

11. In Erwägung dessen, dass die Verfassungswidrigkeitserklärung der Worte „Gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts sind keine Rechtsmittel gegeben“ mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam wird; dass diese Aufhebung gegenüber allen zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Revisionsverfahren wirksam ist,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - In Artikel 695-46 Absatz 4 der Strafprozessordnung sind die Worte „Gegen den Beschluss des Ermittlungsgerichts sind keine Rechtsmittel gegeben“ verfassungswidrig.

 

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 11 festgelegten Voraussetzungen wirksam.

 

Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 13. Juni 2013, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Nicole BELLOUBET, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Hubert HAENEL und Nicole MAESTRACCI.

 

Veröffentlicht am 14. Uni 2013.