Herr Hovanes A.

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 15. Juni 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 3455 vom 7. Juni 2011) bezüglich einer von Herrn Hovanes A. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit von Artikel 175 der Strafprozessordnung mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf die Strafprozessordnung;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 7. Juli 2011;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr Thierry-Xavier Girardot, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 2. August 2011 gehört worden ist;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass der Artikel 175 der Strafprozessordnung bestimmt: „Sobald er die Ermittlungen für abgeschlossen erachtet, übermittelt der Ermittlungsrichter die Akte dem Oberstaatsanwalt und setzt gleichzeitig die Verfahrensbeteiligten und deren Rechtsanwälte davon in Kenntnis, entweder mündlich und mit entsprechendem Aktenvermerk oder schriftlich durch Einschreiben. Befindet sich die Person in Untersuchungshaft, so kann diese Benachrichtigung dem Betroffenen auch vom Leiter der Justizvollzugsbehörde angezeigt werden; der Leiter der Strafvollzugsanstalt übermittelt dem Ermittlungsrichter unverzüglich die vom Betroffenen unterzeichnete Empfangsbestätigung im Original oder als Abschrift.

Der Oberstaatsanwalt verfügt über eine Frist von einem Monat, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet, beziehungsweise, in allen übrigen Fällen, über eine Frist von drei Monaten, um dem Ermittlungsrichter seine mit Gründen versehenen Anträge vorzulegen. Eine Abschrift dieser Anträge der Staatsanwaltschaft wird gleichzeitig den Rechtsanwälten der Verfahrensbeteiligten per Einschreiben zugestellt.

Die Verfahrensbeteiligten verfügen ebenfalls über diese Frist von einem Monat beziehungsweise von drei Monaten nach der Sendung der in Absatz 1 vorgesehenen Benachrichtigung, um dem Ermittlungsrichter gemäß den Modalitäten des vorletzten Absatzes von Artikel 81 eine schriftliche Stellungnahme vorzulegen. Zugleich wird dem Oberstaatsanwalt eine Abschrift dieser Stellungnahme zugeschickt.

Während dieser Frist von einem Monat beziehungsweise drei Monaten können die Verfahrensbeteiligten Anfragen und Anträge gemäß Artikel 81 Absatz 9, Artikel 82-1, Artikel 156 Absatz 1 und Artikel 173 Absatz 3 stellen. Nach Ablauf dieser Frist sind solche Anfragen und Anträge unzulässig.

Nach Ablauf der Frist von einem Monat beziehungsweise von drei Monaten verfügen der Oberstaatsanwalt und die Verfahrensbeteiligten über eine Frist von zehn Tagen, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet, beziehungsweise, in allen anderen Fällen, über eine Frist von einem Monat, um dem Ermittlungsrichter nach Prüfung der ihnen übermittelten Stellungnahmen und Anträge ergänzende Anträge und Stellungnahmen vorzulegen.

Nach Ablauf der im vorangehenden Absatz vorgesehenen Frist von zehn Tagen beziehungsweise einem Monat kann der Ermittlungsrichter die Verfügung zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens erlassen, und zwar auch dann, wenn während der gesetzlich vorgeschrieben Frist keine Anträge oder Stellungnahmen gestellt beziehungsweise vorgelegt wurden.

Die Vorschriften der Absätze 1, 3 und 5 sowie, betreffend einen Einwand der Nichtigkeit, des Absatzes 4 dieses Artikels gelten auch für Zeugen, die von einem Rechtsbeistand begleitet werden.

Die Verfahrensbeteiligten können im Beisein ihres Rechtsanwalts, beziehungsweise nachdem dieser ordnungsgemäß geladen wurde, angeben, dass sie auf die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen verzichten wollen“;

 

2. In Erwägung dessen, dass der Antragsteller behauptet, der zweite Satz des Absatzes 2 von Artikel 175 der Strafprozessordnung verletze dadurch, dass er vorsehe, dass die Abschrift der Anträge der Staatsanwaltschaft nur den Rechtsanwälten der Verfahrensbeteiligten zugestellt werden, das Recht auf ein faires Verfahren und die Rechte der Verteidigung von nicht von einem Rechtsanwalt vertretenen oder beratenen Verfahrensbeteiligten;

 

3. In Erwägung dessen, dass die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit die Vorschrift des zweiten Satzes von Absatz 2 von Artikel 175 der Strafprozessordnung zum Gegenstand hat;

 

4. In Erwägung dessen, dass gemäß Artikel 6 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 das Gesetz „für alle gleich sein [soll], mag es beschützen, mag es bestrafen“; dass Artikel 16 der Erklärung von 1789 verkündet: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“; dass der Gesetzgeber zwar je nach Sachverhalt, Tatbestand oder den beteiligten Personen unterschiedliche Verfahrensregeln aufstellen kann, dies jedoch nur unter der Voraussetzung zu geschehen vermag, dass diese Ungleichbehandlungen keine ungerechtfertigten Unterscheidungen vornehmen und dass den Rechtssuchenden die gleichen Rechte gewährt werden, vor allem in Bezug auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und der Einhaltung der Rechte der Verteidigung;

 

5. In Erwägung dessen, dass die Artikel 80-2, 80-3 und 116 der Strafprozessordnung das Recht des Beschuldigten und des Nebenklägers gewährleisten, im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen einen Rechtsanwalt oder gegebenenfalls einen Pflichtverteidiger hinzuzuziehen; dass jedoch, wenn den Verfahrensbeteiligten eine Wahlfreiheit eingeräumt wird, die ihnen erlaubt, sich entweder von einem Rechtsanwalt beraten zu lassen oder sich selbst zu verteidigen, so verbieten der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und die Rechte der Verteidigung, dass der Ermittlungsrichter über den Abschluss des Ermittlungsverfahrens entscheidet, wenn nicht die Schlussanträge der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren allen Verfahrensbeteiligten mitgeteilt worden sind; dass in Satz 2 des Absatzes 2 von Artikel 175 der Strafprozessordnung die Worte „Rechtsanwälten der“ zur Folge haben, dass die Schlussanträge der Staatsanwaltschaft ausschließlich den Rechtsanwälten der Verfahrensbeteiligten zugestellt werden; dass diese Worte daher für verfassungswidrig erklärt werden müssen;

 

6. In Erwägung dessen, dass die Verfassungswidrigkeitserklärung mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam wird; dass sie zum einen in allen Verfahren greift, in denen die Anträge der Staatsanwaltschaft nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung den Verfahrensbeteiligten zugeschickt werden; dass zum anderen in noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren die Verfassungswidrigkeitserklärung nur von zum Zeitpunkt des Abschlusses des Ermittlungsverfahrens nicht anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten geltend gemacht werden kann, sofern die Verfügung zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens diese Verfahrensbeteiligten beschwert;

 

7. In Erwägung dessen, dass der weitere Inhalt des zweiten Satzes des Absatzes 2 von Artikel 175 der Strafprozessordnung gegen keine von der Verfassung verbürgten Rechte und Freiheiten verstößt,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - Im zweiten Satz des Absatzes 2 von Artikel 175 der Strafprozessordnung sind die Worte „Rechtsanwälten der“ verfassungswidrig.

 

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 6 festgelegten Voraussetzungen wirksam.

 

Artikel 3 - Der übrige Wortlaut von Artikel 175 Absatz 2 Satz 2 der Strafprozessordnung ist verfassungskonform.

 

Artikel 4 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 8. September 2011, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

 

Veröffentlicht am 9. September 2011.