Gesellschaft Air France

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 15. Juli 2021 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Staatsrat (Beschluss Nr. 450480 vom 9. Juli 2021) bezüglich einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden. Die Frage wurde von der Rechtsanwaltskanzlei Rocheteau und Uzan-Sarano, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, für die Gesellschaft Air France erhoben. Sie wurde unter dem Aktenzeichen Nr. 2021-940 QPC beim Generalsekretariat des Verfassungsrates eingetragen. Die Frage hat die Vereinbarkeit des Artikels L. 213-4 und der Vorschrift von Ziffer 1o von Artikel L. 625-7 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand.

 

 

Unter Bezugnahme auf die nachfolgenden Rechtsnormen:

 

- die Verfassung;

 

- die gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

-das Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985, insbesondere dessen Artikel 26;

 

-die Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985;

 

- das Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht;

 

- das Gesetzbuch über das Transportwesen;

 

- die gesetzesvertretende Verordnung Nr. 2004-1248 vom 24. November 2004 über den legislativen Teil des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht, bestätigt durch Artikel 120 des Gesetzes Nr. 2006-911 vom 24. Juli 2006, Einwanderungs- und Integrationsgesetz;

 

- das Gesetz Nr. 2016-274 vom 7. März 2016 über das Ausländerrecht in Frankreich;

 

- die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit.

 

Unter Bezugnahme auf die nachfolgenden Verfahrensunterlagen:

 

- die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 4. August 2021;

 

- die für die als Nebenintervenienten auftretende Vereinigung Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers von der Rechtsanwaltskanzlei Zribi und Texier, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am selben Tage;

 

- die zusätzliche für die antragstellende Gesellschaft von der Rechtsanwaltskanzlei Rocheteau und Uzan-Sarano eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 16. August 2021;

 

- die weiteren zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen.

 

Nachdem Herr RA Cédric Uzan-Sarano, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassener Anwalt, für die antragstellende Gesellschaft, Frau RAin Isabelle Zribi, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwältin, für die als Nebenintervenienten auftretende Vereinigung, sowie Herr Antoine Pavageau, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 5. Oktober 2021 gehört worden sind.

 

Unter Bezugnahme auf die nachfolgenden Verfahrensunterlagen:

 

- die nach der mündlichen Verhandlung von der Rechtsanwaltskanzlei Rocheteau und Uzan-Sarano für die antragstellende Gesellschaft eingereichte Mitteilung, eingetragen am 8. Oktober 2021;

 

- die nach der mündlichen Verhandlung vom Premierminister eingereichte Mitteilung, eingetragen am 11. Oktober 2021;

 

- die nach der mündlichen Verhandlung von der Rechtsanwaltskanzlei Zribi und Texier für die als Nebenintervenienten auftretende Vereinigung eingereichte Mitteilung, eingetragen am 13. Oktober 2021.

 

Und nachdem der Berichterstatter gehört worden ist:

 

AUFGRUND DER NACHFOLGENDEN ERWÄGUNGEN:

 

1. Die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit ist als in Bezug auf die im Rechtsstreit, in dessen Rahmen sie erhoben wurde, anwendbaren Vorschriften gestellt anzusehen. Daher ist der Verfassungsrat angerufen bezüglich des Artikels L. 213-4 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht in der Fassung der oben gesetzesvertretenden Verordnung vom 24. November 2004 sowie bezüglich der Vorschrift von Ziffer 1o von Artikel L. 625-7 desselben Gesetzbuches in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 7. März 2016.

 

2. Der Artikel L. 213-4 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht in der genannten Fassung bestimmt:

 

Wird einem Ausländer, der kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ist, die Einreise nach Frankreich verweigert, ist das Luftfahrt- oder Seeverkehrsunternehmen, das ihn befördert hat, verpflichtet, den besagten Ausländer auf Verlangen der für die Personenkontrollen an den Grenzen zuständigen Behörden unverzüglich zu dem Ort zurück zu befördern, an dem er das von diesem Unternehmen betriebene Verkehrsmittel bestiegen hat, beziehungsweise, sollte dies nicht möglich sein, ihn in den Staat, der das von dem Ausländer verwendete Reisedokument ausgestellt hat, oder an jeden anderen Ort, an dem der Ausländer aufgenommen werden kann, zurück zu befördern“.

 

3. Die Vorschrift von Ziffer 1o von Artikel L. 625-7 desselben Gesetzbuches in der genannten Fassung sieht vor, dass mit einer Geldstrafe von bis zu 30.000 Euro betraft wird:

 

Ein Luftfahrt- oder Seeverkehrsunternehmen, das den in den Artikeln L. 213-4 bis L. 213-6 niedergelegten Verpflichtungen nicht nachkommt“.

 

4. Die antragstellende Gesellschaft rügt, diese Bestimmungen zwängen die Luftfahrtunternehmen dazu, ausländische Staatsbürger, denen die Einreise auf das französische Staatsgebiet verweigert wurde, zurück zu befördern, und zwar gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs, wenn das Verhalten einer solchen Person eine Gefahr für die Sicherheit an Bord des Luftfahrzeugs darstelle. Damit übertrügen die angegriffenen Vorschriften unter Verletzung von Artikel 12 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hoheitliche Aufgaben der allgemeinen Gefahrenabwehr, die der Ausübung der Staatsgewalt inhärent seien, auf Privatrechtssubjekte. Darüber hinaus trägt das antragstellende Unternehmen vor, diese Bestimmungen zwängen die betreffenden Unternehmen, Personen, die sich der Rückbeförderungsmaßnahme verweigerten, gegen deren Willen in Haft zu nehmen, wodurch Artikel 66 der Verfassung verletzt werde. Im Übrigen ermöglichten diese Bestimmungen eine Haftbarmachung der Beförderungsunternehmen auch in denjenigen Fällen, in denen die Nichterfüllung der Rückbeförderungsverpflichtung allein auf das Verhalten des Passagiers zurückzuführen sei. Damit verkennten diese Bestimmungen Artikel 9 der Erklärung von 1789.

 

5. Darüber hinaus behauptet die antragstellende Gesellschaft, dass diese Vorschriften dadurch, dass sie die Beförderungsunternehmen zur Übernahme sämtlicher mit der Rückbeförderung verbundenen Kosten verpflichteten, diesen Unternehmen übermäßige Verpflichtungen auferlegten. Daher verkennten sie Artikel 13 der Erklärung von 1789.

 

6. Schließlich habe der Gesetzgeber mit den angegriffenen Bestimmungen seine Zuständigkeit nicht vollumfänglich ausgeübt, soweit diese Vorschriften keinerlei Ausnahmen von der Rückbeförderungspflicht vorsehen.

 

7. Die Rügen sind somit gegen die den Luftfahrunternehmen auferlegte Rückbeförderungsverpflichtung gerichtet. Folglich hat die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit die Wörter „ist […] verpflichtet […] zurück zu befördern“ aus Artikel L. 213-4 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht zum Gegenstand.

 

8. Die Vereinigung Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers ist im Rahmen der vorliegenden vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit lediglich in dem Maße zur Streitbeteiligung berechtigt, in dem sie ebenfalls diese Wörter aus der angegriffenen Vorschrift rügt. Auf dieselben Gründe wie die antragstellende Gesellschaft gestützt, trägt sie vor, diese Bestimmungen verkennten Artikel 12 der Erklärung von 1789.

 

- Über die vom Verfassungsrat ausgeübte Prüfung:

 

9. Artikel 88-1 der Verfassung bestimmt: „Die Französische Republik wirkt an der Europäischen Union mit, welche aus Staaten besteht, die sich in freier Entscheidung dazu entschlossen haben, einige ihrer Befugnisse gemeinsam auszuüben gemäß dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, wie diese sich aus dem am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichneten Vertrag ergeben“. Die Umsetzung einer Richtlinie oder die Anpassung des innerstaatlichen Rechts an eine Verordnung darf nicht gegen eine Bestimmung oder einen Grundsatz verstoßen, in welchen die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt, es sei denn, der Verfassungsgesetzgeber hätte dem zugestimmt. Sofern nicht die Verletzung einer Bestimmung oder eines solchen Grundsatzes gerügt wird, ist der Verfassungsrat nicht zuständig, um die Vereinbarkeit von gesetzlichen Bestimmungen, welche sich darauf beschränken, die notwendigen Folgen aus den unbedingten und eindeutigen Bestimmungen einer Richtlinie oder den Vorschriften einer Verordnung der Europäischen Union zu ziehen, mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zu prüfen. In einem solchen Fall ist nur der EU-Richter zuständig, um – gegebenenfalls im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens – die Einhaltung der von Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union geschützten Grundrechte durch eine solche Richtlinie oder eine solche Verordnung zu überprüfen.

 

10. Gemäß Artikel 26 des am 19. Juni 1990 unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen haben sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, Drittausländer, denen die Einreise in das Hoheitsgebiet eines der Unterzeichnerstaaten verweigert wurde, „unverzüglich zurückzunehmen“ und sie in einen Drittstaat zu verbringen. Diese Verpflichtung wurde von der oben genannten Richtlinie vom 28. Juni 2001 bekräftigt und näher bestimmt.

 

11. Indem sie vorsehen, dass ein Luftfahrt- beziehungsweise Seeverkehrsunternehmen verpflichtet ist, einen Ausländer, der kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ist, im Falle einer Verweigerung der Einreise nach Frankreich zurück zu befördern, sollen die angegriffenen Vorschriften von Artikel L. 213-4 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht die Umsetzung dieser Richtlinie gewährleisten.

 

12. Damit beschränken sich diese Vorschriften darauf, die notwendigen Folgen aus den unbedingten und eindeutigen Bestimmungen der Richtlinie vom 28. Juni 2001 zu ziehen.

 

13. Infolgedessen ist der Verfassungsrat für die Prüfung der Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschriften mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten lediglich in dem Maße zuständig, wie diese Vorschriften eine Bestimmung oder einen Grundsatz berühren, die keinen gleichwertigen Schutz durch das Recht der Europäischen Union erfahren und in welchen die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt.

 

- In der Sache:

 

14. Zum Ersten handelt es sich bei dem Recht auf Sicherheit, dem Grundsatz der persönlichen Haftung und der Gleichheit aller Bürger vor den öffentlichen Lasten nicht um Bestimmungen oder Grundsätze, in welchen die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt. Es ist daher nicht Sache des Verfassungsrates, über die diesbezüglichen Rügen zu entscheiden.

 

15. Zum Zweiten bestimmt Artikel 12 der Erklärung von 1789: „Die Sicherung der Menschen- und Bürgerrechte erfordert eine Streitmacht. Diese Macht ist also zum Vorteil aller eingesetzt und nicht für den besonderen Nutzen derer, denen sie anvertraut ist“. Daraus ergibt sich ein Verbot, hoheitliche Aufgaben der allgemeinen Gefahrenabwehr, die dem Einsatz der zur Sicherung dieser Rechte erforderlichen „Streitmacht“ inhärent sind, auf Privatrechtssubjekte zu übertragen. Dieses Erfordernis stellt einen Grundsatz dar, in welchem die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt.

 

16. Die Entscheidung über die Durchführung der Rückbeförderung einer Person, der die Einreise auf das französische Staatsgebiet verweigert wurde, fällt unter die ausschließliche Zuständigkeit der für die Personenkontrollen an den Grenzen zuständigen Behörden. Gemäß den angegriffenen Vorschriften sind die Luftfahrtunternehmen auf Verlangen dieser Behörden lediglich verpflichtet, sich solcher Personen anzunehmen und deren Beförderung sicherzustellen.

 

17. Somit haben die angegriffenen Vorschriften weder zum Zweck noch zur Folge, diesen Unternehmen eine Pflicht aufzuerlegen, die zurückzubefördernde Person zu beaufsichtigen oder ihr gegenüber Zwang auszuüben, denn derartige Maßnahmen fallen unter die ausschließliche Zuständigkeit der Polizeibehörden. Diese Vorschriften entziehen dem Flugkapitän auch nicht die Möglichkeit, in Anwendung von Artikel L. 6522-3 des Gesetzbuches über das Transportwesen den Ausstieg einer Person zu veranlassen, die eine Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit, die Hygiene oder die Ordnung an Bord des Luftfahrzeugs darstellt.

 

18. Die Rüge, die Vorgaben aus Artikel 12 der Erklärung von 1789 seien verkannt, ist daher zu verwerfen. Gleiches gilt in Bezug auf die Rüge, der Gesetzgeber habe seine Zuständigkeit in einer Weise nicht vollumfänglich ausgeübt, die die besagten Vorgaben berühre.

 

19. Folglich sind die angegriffenen Bestimmungen für verfassungskonform zu erklären.

 

 

ENTSCHEIDET DER VERFASSUNGSRAT:

 

 

Artikel 1. - Die Wörter „ist [...] verpflichtet [...] zurück zu befördern“ aus Artikel L. 213-4 des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht in der Fassung der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 2004-1248 vom 24. November 2004 über den legislativen Teil des Gesetzbuches über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht sind verfassungskonform.

 

Artikel 2. - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 14. Oktober 2021, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Laurent FABIUS, Präsident, Claire BAZY MALAURIE, Alain JUPPÉ, Dominique LOTTIN, Corinne LUQUIENS, Nicole MAESTRACCI, Jacques MÉZARD, François PILLET und Michel PINAULT.

 

Veröffentlicht am 15. Oktober 2021.