Frau Corinne C. und Frau Sophie H.

02/12/2022

Der Verfassungsrat ist am 16. November 2010 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Erster Zivilsenat, Beschluss Nr. 1088 vom 16. November 2010) bezüglich einer von den Damen Corinne C. und Sophie H. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit der Artikel 75 und 144 des Zivilgesetzbuches mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

 

 

DER VERFASSUNGSRAT,

 

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

 

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

 

Unter Bezugnahme auf das Zivilgesetzbuch;

 

Unter Bezugnahme auf das Urteil Nr. 05-16627 des Kassationsgerichtshofs (Erster Zivilsenat) vom 13. März 2007;

 

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

 

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 8. Dezember 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die für die Antragstellerinnen von Herrn RA Emmanuel Ludot, Anwalt der Rechtsanwaltskammer von Reims, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 14. Dezember 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die für die Vereinigung SOS Homophobie und die Vereinigung gegenwärtiger und künftiger schwuler und lesbischer Eltern von Frau RAin Caroline Mécary, Anwältin der Rechtsanwaltskammer von Paris, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 14. Dezember 2010;

 

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

 

Nachdem Herr RA Ludot für die Antragstellerinnen, Frau RAin Mécary für die dem Verfahren beigetretenen Vereinigungen und Herr Thierry-Xavier Girardot, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2011 gehört worden sind;

 

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

 

1. In Erwägung dessen, dass Artikel 75 des Zivilgesetzbuches bestimmt: „An dem von den Eheschließenden ausgewählten Tage, und nach Ablauf der Bekanntmachungsfrist, verliest der Standesbeamte im Rathaus den zukünftigen Eheleuten in Gegenwart von mindestens zwei und höchstens vier Zeugen, welche mit den Eheleuten verwandt sein können, den Wortlaut der Artikel 212, 213 (Absätze 1 und 2), 214 (Absatz 1) und 215 (Absatz 1) dieses Gesetzbuches. Er verliest ebenfalls den Artikel 371-1.

Im Falle einer Verhinderung aus schwerwiegenden Gründen kann der Oberstaatsanwalt des Ortes, an dem die Ehe geschlossen werden soll, jedoch den Standesbeamten anweisen, sich zum Wohn- oder Aufenthaltsort von einem der Eheschließenden zu begeben, um die Trauung dort durchzuführen. Im Falle unmittelbar drohender Lebensgefahr für einen der beiden Eheschließenden kann der Standesbeamte sich ohne vorherige Anweisung oder Erlaubnis seitens des Oberstaatsanwalts zu diesem Ort begeben. Der Standesbeamte unterrichtet den Oberstaatsanwalt unverzüglich von der Notwendigkeit, diese Trauung an einem anderen Ort als dem Gemeindehaus durchzuführen.

Ein entsprechender Vermerk wird in der Heiratsurkunde eingetragen.

Der Standesbeamte bittet die künftigen Eheleute beziehungsweise, wenn sie minderjährig sind, ihre bei der Trauung anwesenden und die Eheschließung erlaubenden Verwandten in aufsteigender Linie, zu erklären, ob ein Ehevertrag abgeschlossen wurde. Ist dies der Fall, erbittet der Standesbeamte Auskunft über den Zeitpunkt des Abschlusses dieses Ehevertrages, sowie über den Namen und die Anschrift des Notars, bei welchem der Ehevertrag abgeschlossen wurde.

Stimmen die verschiedenen vorgelegten Unterlagen von einem der beiden zukünftigen Eheleute in Bezug auf seine Vornamen oder die Schreibweise der Namen nicht überein, erbittet der Standesbeamte von dem betroffenen eheschließenden Teil oder, wenn dieser minderjährig ist, von dessen nächsten bei der Trauung anwesenden Verwandten in aufsteigender Linie, eine Bestätigung, dass dies auf ein Versäumnis oder ein Versehen zurückzuführen ist.

Der Standesbeamte nimmt nacheinander die Erklärung von jedem der beiden Eheschließenden entgegen, dass sie sich zum Mann und zur Frau nehmen; er spricht aus, dass sie nunmehr kraft Gesetzes rechtmäßig verbundene Eheleute sind und fertigt unverzüglich die Urkunde darüber aus“;

 

2. In Erwägung dessen, dass Artikel 144 des Zivilgesetzbuches lautet: „Vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahres dürfen der Mann und die Frau keine Ehe eingehen“;

 

3. In Erwägung dessen, dass die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit den letzten Absatz von Artikel 75 sowie den Artikel 144 des Zivilgesetzbuches zum Gegenstand hat; dass diese Bestimmungen zu denjenigen gesetzlichen Vorschriften gezählt werden müssen, aus denen – wie der Kassationsgerichtshof in seinem oben genannten Urteil vom 5. März 2007 bestätigt hat – hervorgeht, dass „nach französischem Recht die Ehe aus der Verbindung eines Mannes und einer Frau besteht“;

 

4. In Erwägung dessen, dass das Verbot der Eheschließung zwischen Menschen gleichen Geschlechts und die fehlende Möglichkeit, auf gerichtlichem Wege eine Ausnahme zu diesem Verbot zu erwirken, nach Auffassung der Antragstellerinnen gegen Artikel 66 der Verfassung und den Grundsatz der Ehefreiheit verstoßen; dass die dem Verfahren beigetretenen Vereinigungen darüber hinaus behaupten, das Recht, ein normales Familienleben zu führen, sowie der Gleichheitssatz seien verletzt;

 

5. In Erwägung dessen, dass gemäß Artikel 34 der Verfassung, „der Personenstand, die Rechtsfähigkeit, das eheliche Güterrecht sowie das Erb- und Schenkungsrecht“ durch das Gesetz geregelt werden; dass es dem Gesetzgeber jederzeit freisteht, im Rahmen seiner Zuständigkeit neue Regelungen zu erlassen, deren Zweckmäßigkeit er beurteilt, bestehende Gesetze zu ändern oder aufzuheben und sie gegebenenfalls durch neue Regelungen zu ersetzen, sofern er bei der Ausübung dieser Befugnis Vorgaben von Verfassungsrang nicht die gesetzlichen Gewährleistungen entzieht; dass Artikel 61-1 der Verfassung, ebenso wenig wie Artikel 61 der Verfassung, dem Verfassungsrat keinen allgemeinen Wertungs- und Entscheidungsspielraum wie den des Parlaments einräumt; dass dieser Artikel dem Verfassungsrat lediglich die Zuständigkeit überträgt, über die Vereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zu entscheiden;

 

6. In Erwägung dessen, dass, erstens, Artikel 66 der Verfassung das Verbot willkürlicher Inhaftierung festschreibt und unter den vom Gesetz festgelegten Bedingungen der Justiz die Aufgabe überträgt, die Freiheit der Person zu schützen; dass die Freiheit, eine Ehe zu schließen, Bestandteil der persönlichen Freiheit ist, welche von den Artikeln 2 und 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 geschützt ist; dass die gerügten Bestimmungen die Freiheit der Person nicht verletzen; dass daher die auf einen Verstoß gegen Artikel 66 der Verfassung gestützte Rüge verfehlt ist;

 

7. In Erwägung dessen, dass, zweitens, die Freiheit, eine Ehe einzugehen, nicht die Befugnis des Gesetzgebers nach Artikel 34 der Verfassung einschränkt, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Ehe zu regeln, sofern der Gesetzgeber dabei Vorgaben von Verfassungsrang nicht die gesetzlichen Gewährleistungen entzieht;

 

8. In Erwägung dessen, dass, zum einen, das Recht, ein normales Familienleben zu führen, sich aus dem zehnten Absatz der Präambel der Verfassung von 1946 ergibt, welcher bestimmt: „Die Nation sichert dem Individuum und der Familie die zu ihrer Entfaltung notwendigen Bedingungen zu“; dass der letzte Absatz von Artikel 75 sowie Artikel 144 des Zivilgesetzbuches es gleichgeschlechtlichen Paaren nicht verwehren, eine nicht-eheliche Lebensgemeinschaft, auf welche Artikel 515-8 des Zivilgesetzbuches anwendbar ist, oder einen von den Artikeln 515-1 ff. des Zivilgesetzbuches geregelten Bürgerlichen Solidaritätspakt einzugehen; dass das Recht, ein normales Familienleben zu führen, nicht bedeutet, gleichgeschlechtliche Paare hätten ein Recht darauf, zu heiraten; dass die gerügten Bestimmungen daher nicht gegen das Recht verstoßen, ein normales Familienleben zu führen;

 

9. In Erwägung dessen, dass, zum anderen, Artikel 6 der Erklärung von 1789 bestimmt, dass das Gesetz „für alle gleich sein [soll], mag es beschützen, mag es bestrafen“; dass das Gleichheitsgebot dem Gesetzgeber weder verbietet, verschiedene Sachverhalte verschieden zu regeln, noch aus Gründen des Allgemeininteresses vom Gleichheitssatz abzuweichen, solange in beiden Fällen die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung in direktem Zusammenhang mit dem Zweck des Gesetzes steht, welches sie begründet; dass der Gesetzgeber in Ausübung seiner Zuständigkeit nach Artikel 34 der Verfassung die Auffassung vertreten hat, dass die Unterschiede zwischen gleichgeschlechtlichen und verschiedengeschlechtlichen Paaren eine Ungleichbehandlung im Familienrecht zu rechtfertigen vermögen; dass es dem Verfassungsrat nicht zusteht, bezüglich der Berücksichtigung dieser Unterschiede die vom Gesetzgeber vorgenommene Bewertung durch seine eigene zu ersetzen; dass daher die auf einen Verstoß gegen Artikel 6 der Erklärung von 1789 gestützte Rüge verworfen werden muss;

 

10. In Erwägung dessen, dass aus den vorgenannten Ausführungen folgt, dass die auf eine Verletzung der Eheschließungsfreiheit gestützte Rüge zurückgewiesen werden muss;

 

11. In Erwägung dessen, dass die gerügten Bestimmungen auch nicht gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstoßen,

 

ENTSCHEIDET:

 

Artikel 1 - Der letzte Absatz von Artikel 75 und Artikel 144 des Zivilgesetzbuches sind verfassungsgemäß.

 

Artikel 2 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

 

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 27. Januar 2011, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.