2022-1022 QPC vom 10. November 2022 - Pressemitteilung

16/03/2023

Frau Zohra M. und andere

[Weigerung des Arztes, einer offensichtlich unsachgemäßen oder der gesundheitlichen Lage des Patienten widersprechenden Patientenverfügung Folge zu leisten]

Der Verfassungsrat erklärt gesetzliche Bestimmungen für verfassungskonform, die die Umstände festlegen, unter denen ein Arzt die Patientenverfügung eines todkranken Patienten unberücksichtigt lassen darf.

Gegenstand der vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit

Der Verfassungsrat ist am 22. August 2022 vom Staatsrat bezüglich einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Verfassungsmäßigkeit des dritten Absatzes von Artikel L. 1111-11 der Gesundheitsordnung betraf.

Gemäß Artikel L. 1111-11 der Gesundheitsordnung kann jede volljährige Person eine Patientenverfügung in Bezug auf ihr Lebensende verfassen, die grundsätzlich den behandelnden Arzt bindet und für den Fall gilt, dass die betreffende Person eines Tages nicht mehr in der Lage wäre, ihren Willen bezüglich der Umstände für die Fortführung, die Einschränkung, die Einstellung oder die Ablehnung einer medizinischen Behandlung oder Handlung zu bekunden.

Die angegriffene Bestimmung dieses Artikels erlaubt es dem behandelnden Arzt, die Anwendung einer solchen Patientenverfügung auszuschließen, insbesondere wenn die Patientenverfügung offensichtlich unsachgemäß ist oder der gesundheitlichen Lage des Patienten widerspricht.

Gegen diese Bestimmung vorgetragene Rügen

Die Antragstellerinnen, ebenso wie die als Nebenintervenientin auftretende Vereinigung, rügten, diese Vorschrift ermögliche es einem Arzt, die Anwendung von Patientenverfügungen auszuschließen, in denen ein Patient seinen Willen bekundet habe, dass eine lebenserhaltende Behandlung fortgeführt werden solle. Sie trugen vor, dass diese Vorschrift, indem sie dem Arzt eine derartige Entscheidung in den Fällen erlaube, in denen die Patientenverfügung ihm „offensichtlich unsachgemäß oder der gesundheitlichen Lage des Patienten widersprechend“ erscheine, nicht von ausreichenden Gewährleistungen flankiert sei, da ihr Wortlaut ungenau sei und dem Arzt einen zu großen Entscheidungsspielraum einräume, wenn dieser seine Entscheidung alleine und ohne vorherige, verpflichtende Bedenkzeit treffen könne. Daraus ergab sich nach Ansicht der Antragstellerinnen ein Verstoß gegen den Grundsatz des Schutzes der Menschenwürde, aus der sich das Recht auf Achtung des menschlichen Lebens ableite, sowie gegen die persönliche Freiheit und die Gewissensfreiheit.

Verfassungsgerichtliche Prüfung der gerügten Bestimmung

In seiner heute ergangenen Entscheidung hebt der Verfassungsrat hervor, dass die Präambel der Verfassung von 1946 bekräftigt, dass jeder Mensch ohne Unterschied der Rasse, der Religion oder des Glaubens unveräußerliche und heilige Rechte besitzt. Der Schutz der Menschenwürde gegen jede Form von Unterjochung oder Herabwürdigung gehört zu diesen Rechten und stellt somit einen Grundsatz von Verfassungsrang dar.

Er betont darüber hinaus, dass die persönliche Freiheit durch die Artikel 1, 2 und 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 geschützt wird.

Es obliegt folglich dem Gesetzgeber, der nach Artikel 34 der Verfassung für die Regelung der den Staatsbürgern zur Ausübung ihrer Grundfreiheiten gewährten Grundrechte zuständig ist, namentlich in gesundheitsrelevanten Fragen, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen unter Achtung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben die Fortführung oder die Beendigung der Behandlung einer todkranken Person beschlossen werden kann.

An diesem dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstab gemessen, stellt der Verfassungsrat erstens fest, dass der Gesetzgeber mit der dem Arzt eingeräumten Möglichkeit, eine Patientenverfügung nicht zu befolgen, der Auffassung gefolgt ist, dass eine solche Verfügung nicht unter allen Umständen gelten könne, angesichts der Tatsache, dass sie zu einem Zeitpunkt verfasst werde, an dem die betreffende Person sich noch nicht in der konkreten Situation am Lebensende befinde, in der sie aufgrund ihres schwer beeinträchtigten Gesundheitszustands nicht mehr in der Lage sei, ihren Willen zu äußern. Damit hat er zum einen das Recht jedes Menschen schützen wollen, eine dem Gesundheitszustand am besten entsprechende Behandlung zu erhalten, und zum anderen den Schutz der Menschenwürde todkranker Menschen gewährleisten wollen.

Der Verfassungsrat erinnert diesbezüglich daran, dass er über keinen allgemeinen Wertungs- und Gestaltungsspielraum wie denjenigen des Parlaments verfügt und es ihm nicht zusteht, die vom Gesetzgeber vorgenommene Bewertung durch seine eigene zu ersetzen in Bezug auf die Umstände, unter denen ein Arzt die Patientenverfügung einer todkranken Person, die ihren Willen nicht mehr äußern kann, unberücksichtigt lassen darf, sofern die berücksichtigten Umstände im Hinblick auf das mit der Regelung verfolgte Ziel nicht offensichtlich ungeeignet sind.

Zweitens erlaubt die angegriffene Bestimmung dem Arzt die Nichtanwendung der Patientenverfügung nur in denjenigen Fällen, in denen diese „offensichtlich unsachgemäß oder der gesundheitlichen Lage des Patienten widersprechend erscheint“. Diese Vorschrift ist weder unbestimmt noch mehrdeutig.

Drittens darf der Arzt nur nach einer Rücksprache im Kollegenkreis entscheiden, die ihm eine aufgeklärte Entscheidung ermöglichen soll. Diese Besprechung wird in der Patientenakte vermerkt und der vom Patienten beziehungsweise von dessen Familienmitgliedern oder Angehörigen benannten Vertrauensperson zur Kenntnis gebracht.

Schließlich kann die ärztliche Entscheidung gegebenenfalls gerichtlich überprüft werden. Im Falle einer Entscheidung, eine lebensverlängernde Behandlung wegen unangemessener Hartnäckigkeit zu begrenzen oder zu beenden, wird die Vertrauensperson oder, mangels Bezeichnung einer solchen, wird die Familie oder werden die Angehörigen in einer Weise von dieser Entscheidung in Kenntnis gesetzt, die das rechtzeitige Einlegen von Rechtsbehelfen ermöglicht. Das Rechtsmittel wird im Übrigen vom zuständigen Gericht schnellstmöglich geprüft, um gegebenenfalls eine Aussetzung der streitigen Entscheidung ermöglichen zu können.

Aus allen diesen Ausführungen schließt der Verfassungsrat, dass der Gesetzgeber weder den Grundsatz des Schutzes der Menschenwürde noch die persönliche Freiheit verletzt hat.

Da die angegriffene Vorschrift nach Auffassung des Verfassungsrates auch nicht gegen die Gewissensfreiheit, gegen den Gleichheitssatz oder gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstößt, erklärt er sie für verfassungsgemäß.

Mis à jour le 18/09/2023