Der Verfassungsrat ist am 28. September 2010 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 5255 vom 22. September 2010) bezüglich einer von Herrn Alain D. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des vierten Absatzes von Artikel 1741 des Steuer- und Abgabengesetzbuches mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.
Der Verfassungsrat ist am 30. September 2010 (Beschluss Nr. 5254 vom 22. September 2010) und am 8. Oktober 2010 (Beschluss Nr. 5554 vom 5. Oktober 2010) gemäß denselben Voraussetzungen ebenfalls vom Kassationsgerichtshof bezüglich zweier von Frau Sylvie B. und Herrn Eric V. erhobenen vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit zu derselben Vorschrift angerufen worden.
DER VERFASSUNGSRAT,
Unter Bezugnahme auf die Verfassung;
Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;
Unter Bezugnahme auf das Steuer- und Abgabengesetzbuch;
Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;
Unter Bezugnahme auf die für Herrn D. von der Rechtsanwaltskanzlei Delaporte, Briard und Trichet, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 21. Oktober und am 8. November 2010;
Unter Bezugnahme auf die für Frau B. von Herrn RA Martin Le Guerer, Anwalt der Rechtsanwaltskammer von Paris, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 21. Oktober 2010;
Unter Bezugnahme auf die für Herrn V. von Herrn RA Jean-Félix Luciani, Anwalt der Rechtsanwaltskammer von Lyon, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 17. November 2010;
Unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des Premierministers, eingetragen am 22. Oktober und am 2. November 2010;
Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;
Nachdem Herr RA François-Henri Briard, Herr RA Martin Le Guerer und Herr RA Luciani für die Antragsteller und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 30. November 2010 gehört worden sind;
Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;
1. In Erwägung dessen, dass der vierte Absatz von Artikel 1741 des Steuer- und Abgabengesetzbuches bestimmt: „Das Gericht ordnet in allen Fällen die Veröffentlichung des gesamten Urteils oder von Auszügen des Urteils im Amtsblatt der Französischen Republik, sowie in den vom Gericht benannten Zeitungen an. Ebenso ordnet das Gericht für eine Dauer von drei Monaten den öffentlichen Aushang des vollständigen Urteils oder von Auszügen desselben an den Anschlagtafeln für öffentliche Bekanntmachungen der Gemeinde, in der die Steuerpflichtigen ihren Wohnsitz haben, sowie an der Eingangstür des Gebäudes, in dem diese Steuerpflichtigen ihre(n) Betrieb(e) haben, an. Die Kosten für diese Veröffentlichung und Bekanntmachung sind in voller Höhe allein vom Verurteilten zu tragen“;
2. In Erwägung dessen, dass die Antragsteller vortragen, diese Bestimmungen verstießen gegen die Grundsätze der Notwendigkeit der Strafe und der Konkretisierung der Strafzumessung, welche von Artikel 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 geschützt sind;
3. In Erwägung dessen, dass Artikel 8 der Erklärung von 1789 lautet: „Das Gesetz soll nur solche Strafen festsetzen, die offensichtlich unbedingt notwendig sind, und niemand darf auf Grund eines Gesetzes bestraft werden, das nicht vor Begehung der Tat erlassen, verkündet und rechtmäßig angewandt worden ist“; dass der aus dieser Bestimmung folgende Grundsatz der Konkretisierung der Strafzumessung bedeutet, dass die Veröffentlichung und Bekanntmachung des Urteils als Strafmaßnahme nur dann angewandt werden darf, wenn der Richter dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ausdrücklich im Urteil vorgesehen hat;
4. In Erwägung dessen, dass die gerügte Bestimmung, indem sie bei einer Verurteilung wegen Steuerstraftaten die Veröffentlichung und Bekanntmachung des Urteils zwingend vorschreibt, zum Ziel hat, die Bekämpfung solcher Vergehen durch die Sicherstellung der größtmöglichen öffentlichen Bekanntmachung einer solchen Verurteilung zu stärken;
5. In Erwägung dessen, dass der Richter, welcher eine Verurteilung wegen Steuerstraftaten ausspricht, die Veröffentlichung des Urteils im Amtsblatt anordnen muss; dass er ebenfalls den öffentlichen Aushang des Urteils anweisen muss; dass es nicht in seinem Ermessen liegt, die von der gerügten Bestimmung vorgesehene dreimonatige Dauer dieses Aushanges zu ändern; dass er auch nicht die Art und Weise der Durchführung dieser öffentlichen Bekanntmachung an den Anschlagtafeln für öffentliche Bekanntmachungen der Gemeinde, in der die Steuerpflichtigen ihren Wohnsitz haben, einerseits, sowie an der Eingangstür des Gebäudes, in dem diese Steuerpflichtigen ihre(n) Betrieb(e) haben, andererseits, zu beeinflussen vermag; dass er zwar entscheiden kann, ob das vollständige Urteil oder nur Auszüge desselben veröffentlicht und bekanntgemacht werden sollen, diese Möglichkeit alleine jedoch nicht ausreichend ist, die Beachtung der Anforderungen zu gewährleisten, welche sich aus dem Grundsatz der Konkretisierung der Strafzumessung ergeben; dass der vierte Absatz von Artikel 1741 des Steuer- und Abgabengesetzbuches daher für verfassungswidrig erklärt werden muss,
ENTSCHEIDET:
Artikel 1 - Der vierte Absatz von Artikel 1741 des Steuer- und Abgabengesetzbuches ist verfassungswidrig.
Artikel 2 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.
Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 9. Dezember 2010, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.